KurzfilmKino: „Jesus Point“ von Sina Scheitler
Es ist mitten in der Nacht, als das Handy klingelt. „Da ist wieder einer!“ Der junge Mann springt aus dem Bett, steigt in die Hose und schwingt sich aufs Rad. Sein Ziel ist eine tiefe Schlucht, über die eine Brücke führt. Trotz hohem Geländer ein beliebter Ort für Selbstmörder. Doch weit und breit ist niemand zu sehen. Langsam bricht die Morgendämmerung herein. Genervt packt der junge Mann das Fernglas ein. Da betritt eine Frau die Brücke. Er rast los. Wird er sie rechtzeitig erreichen?
Im deutschen Pressekodex heißt es unter der Richtlinie 8.7 zu Selbstmordberichten in den Medien: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Gerade der letzte Punkt soll verhindern, dass Suizidgefährdeten über die Medien Inspiration gegeben wird – einerseits, was die Methoden angeht, andererseits wie ein Suizid in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Wie oft diese Verfahrensweise selbst von renommierten Medien missachtet wird, konnte man eindrucksvoll an den Berichten über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen Anfang April beobachten.
Einen Kurzfilm über Selbstmord zu machen, fällt zwar nicht unter den Pressekodex, die erwähnte Zurückhaltung wünscht man sich jedoch auch hier. Es ist offensichtlich, dass Regisseurin und Drehbuchautorin Sina Scheitler sich bei „Jesus Point“ enorm viele Gedanken darüber gemacht hat. Schon die Wahl des Protagonisten fällt nicht auf einen potentiellen Selbstmörder. Scheitlers Hauptfigur kümmert sich um eine Brücke, von der sich scheinbar schon häufiger Menschen in den Tod gestürzt haben. Damit macht Scheitler nicht den Fehler, die Gefühle oder Beweggründe des Selbstmörders darzustellen und damit nachvollziehbar zu machen oder gar mit Identifikationspotential zu füllen. Wir fiebern mit dem jungen Mann mit, der hier jemanden retten will.
Die Kameraführung von Elias Förg ist hervorragend. Trotz ständiger Bewegung ist sie immer präzise und schafft spielend den Wechsel zwischen epischer Breite und Nähe zu den Gefühlsregungen der Schauspieler. Der Schnitt geht mit den visuellen Entscheidungen Hand in Hand, wagt Weglassungen und strafft, wo es nötig ist mit hoher Genauigkeit. Dafür lassen beide Gewerke in den entscheidenden Momenten auch die Ruhe im Bild zu und geben den Figuren den Raum, den die Geschichte braucht. So in der beeindruckenden Szene auf der Brücke, als der junge Mann die Dame anspricht, die vermutlich gerade in den Tod springen will. Was sagt man in so einer Situation? Was ist hier ein glaubwürdiger Dialog?
Sina Scheitler schafft das, indem sie größtenteils schweigen lässt. Das Timing zwischen ihren Hauptdarstellern Roy Luchterhand und Anja Karmanski ist perfekt. Der Dialog ohne Dialog, der auf der Brücke beginnt und später fortgeführt wird, fängt genau die Sprachlosigkeit auf, die wir im Angesicht von Selbstmord haben. Und das Wenige, was gesagt wird, unterstreicht diese Sprachlosigkeit noch. Scheitler präsentiert keine abgedroschenen Lebensweisheiten als Lösung, lässt keine filmisch konstruierten Hoffungsschimmer auftauchen. Über die Beweggründe der Selbstmörderin erfahren wir nichts. Nur eine Geste ist da, ganz am Ende, ein Hinweis darauf, dass es etwas gibt, was die Frau wieder in dieser Welt geerdet hat. Wissen aber können wir es nicht. Um genau diese beiden Dinge dreht sich dieser beeindruckende Film.
Fazit: Intelligenter, visuell toll erzählter Film über das schwierige Thema Suizid. Beeindruckend!
Jetzt gleich hier ansehen:
JESUS POINT from Elias Förg on Vimeo.