Sechs Reviews zum Geburtstag: Flimmerzimmer 365

flimmer365Filmfestivals haben etwas Unschönes an sich. Sie sind irre schnell vorbei und dann muss man ein Jahr warten. Wie fein wäre es also, sich zweimal im Monat zum Filme gucken zu treffen. Auch ohne Preise. Ja, ihr ahnt es. Wenn ich so anfange, offenbare ich im nächsten Satz, dass es sowas schon gibt. Wir überspringen mal eure gespielte Überraschung. Dankenswerterweise taten sich im letzten Jahr eine handvoll Filmenthusiasten um André Hermann zusammen und gründeten das Flimmerzimmer. Dort werden Indiefilme aller Couleur zelebriert. Seit 365 Tagen trifft man sich rund zweimal im Monat im schönen Berlin im Hermann-Schulz-Café in Friedrichshain. Die Veranstaltung feierte am vergangenen Donnerstag ihr Einjähriges. Als besonderes Schmankerl hatten die sechs vorgestellten Filme diesmal je einen Filmpaten aus der Branche, der das Werk und den Filmschaffenden vorstellte. Als kleines Geburtstagsgeschenk an Veranstalter, Filmemacher und euch Leser habe ich mir die am Geburtstag vorgestellten Kurzwerke über die Netzhaut flimmern lassen und lege nun ein paar Zeilen zu den sechs Filmen nieder. Los geht’s!

In „Golden“ zeichnet Kai Stänicke in gerade mal drei Minuten die Lebensgeschichte eines jungen Mannes nach. Dessen Hautfarbe ist golden. Ihm ist bewusst, dass er nicht ist, wie die anderen. Doch erst, als er einen anderen Schwulen trifft, beginnt er zu sehen, wie viele „Andere“ es noch gibt. Diese visuelle Metapher für das selbst empfundenen Anders-Sein ist sicher höchst plakativ. Beim ersten Blick könnte man dem Regisseur hier Oberflächlichkeit unterstellen. Aber das wäre sträflich zu kurz gegriffen. Denn die Lebenssituationen, die Stänicke inszeniert, lassen die Metapher problemlos auf andere Formen des gefühlten Anders-Seins übertragen. Stänicke reduziert das Erzählte nicht auf schwule Probleme. Die Begebenheiten stellen sie sofort ein breites Identifikationspotential her. Jeder kennt genau diese Situationen in Schule, Familie oder Berufsleben – egal ob homo oder hetero. Andererseits thematisiert er subtil auch Probleme, wie das der tabuisierten Homosexualität im Sport, oder Männlichkeitsrituale im Allgemeinen, bei denen sich sicher nicht nur die schwule Hauptfigur des Filmes seltsam ausgeschlossen vorkommt.

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Original Screenshot aus „Golden“

Und die Grellheit der goldenen Farbe steht im wunderbar krassen Gegensatz zur Inszenierung der eher schüchternen Hauptfigur. Nach der ersten kindlichen Unbedarftheit, erhält der Zweifel Einzug in das Gesicht des Hauptdarstellers. Wird er anfangs noch zentral und in der Freiheit der Familie gezeigt, so engen ihn später andere Figuren und auch der Bildkader ein. Die Sichtbarkeit des Attributs der Hautfarbe stellt nicht zuletzt auch den Bezug zur Sichtbarkeit Homosexueller in der Gesellschaft her, die so wichtig für den Emanzipationsprozess ist. Denn die jahrzehntelange Diskriminierung wurde nicht zuletzt aufrecht erhalten durch so menschenverachtende Forderungen wie „Don’t ask, don’t tell“. Damit erhält die goldenen Farbe eine ungemein passende metaphorische Bedeutung.

Miriam Bliese porträtiert in „Mein Engel“ ein beinahe verstörendes Mutter-Tochter-Verhältnis. Früher war Vera Balletttänzerin am russischen Staatsballett. Auch ihre Tochter Elena wurde Tänzerin. Doch heute gibt sie nur noch Kindertanzkurse an der Volkshochschule. Beide leben in einer engen Zwei-Zimmer-Wohnung. Vera lässt keine Gelegenheit aus, ihre Tochter ihre Enttäuschung spüren zu lassen. Elena vermittelt ihrer Mutter stets, dass ihre Zeit längst vorbei ist.

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Original Screenshot aus „Mein Engel“

Das Porträt wagt einen schonungslosen Blick hinter die Gardinen. Beide Figuren scheinen gefangen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Sie brauchen einander, dennoch ist die Demütigung steter Begleiter. Nur einen kurzen Moment der Ruhe gibt es für Elena, als sie am Fenster raucht und der unbekannte Raucher gegenüber ihr zuwinkt. Im einzigen Moment, in dem wir jenseits der besagten Gardinen in die Welt hinaus blicken, gibt es einen Funken Verständnis, ganz ohne Worte, der dadurch fast etwas Verschwörerisches erhält. Doch Elena winkt nicht zurück, sie hat diese Welt gewählt.

Die Kamera von Julian Landweer (auf der Genrenale3 lief seine Kameraarbeit „Berlin Troika“) ist nah, verdichtet manchmal den engen Raum noch mehr, macht dann wieder die Distanz zwischen den doch so ähnlichen Frauen deutlich. Dabei nimmt er Elenas Gesicht in den Mittelpunkt, wenn sie zwischen Gehorsam und Abscheu oszilliert. Oft sehen wir ihren Kopf dabei von hinten, halb abgewendet, im Profil. Sie will hier weg, aber kann nicht. Hat aber auch noch nicht aufgegeben, die Liebe der Mutter einzufordern. Das ist äußerst schmerzvoll mit anzusehen. Und deshalb ganz großartig gemacht. Ein höchst beeindruckender Film mit zwei grandiosen Schauspielerinnen!

Original Screenshot aus "Quälen"

Original Screenshot aus „Quälen“

Wenn Filme in keine Schublade passen, machen sie etwas richtig. „Quälen“ von Rebecca Blöcher ist so ein Film. Müsste man ihn einordnen, würde man Unsinn wie „experimentelle Animation“ in den Raum stellen, was ihm schon gleich Unrecht tut. Aber „in den Raum stellen“ passt wiederum zum Werk selbst. Denn er stellt etwas buchstäblich in den Raum, ein Gedicht. Der Raum, das sind zwei miniaturhafte Zimmer, einer Puppenstube nicht unähnlich. Das Gedicht wird einerseits auf der auditiven Ebene rezitiert, während wir es auf Din-A-4-Blättern wunderschön per Hand illustriert in die Zimmer „gelegt“ bekommen, Blatt für Blatt nacheinander und vor allem aufeinander. Die Zettel bleiben liegen und schaffen so einen neuen Hintergrund, auf dem die nächste Animationsstufe entstehen kann.

Das kommt herrlich unprätentiös daher, selten bei experimentelleren Formaten. Und es ist vor allem handwerklich auf höchstem Niveau. Ein Film, dem man Staunend begegnen kann, den man danach eigentlich gleich nochmal gucken will. Und was kann man eigentlich Tolleres über einen Film sagen, als diese beiden Dinge?

Original Screenshot aus "Chains"

Original Screenshot aus „Chain“

In „Chain“ von Eicke Bettinga trifft die junge Physikstudentin Andrea im Bulgarien des Jahres 1989 auf den gleichaltrigen Dian. Etwas bedrückt sie, denn sie macht hier keinesfalls Urlaub. Sie kommt aus Leipzig und will über die Grenze nach Griechenland fliehen. Doch das verschweigt sie ihm, mit schlimmen Folgen. Der mit 22 Minuten längste Film des Programms hat einen wahren Hintergrund. An den Grenzen vieler Länder des Warschauer Pakts gab es den Schießbefehl auf Flüchtlinge. Viele der DDR-Bürger kamen an diesen Grenzen um, ihre genaue Zahl ist unbekannt.

Die Kameraarbeit von Krum Rodriguez ist makellos und setzt die weite Landschaft in schönen Bezug zu den beiden Figuren in ihr. Beide sind Gefangene, die ihre persönliche Freiheit verloren haben, auf ganz unterschiedliche Weise. In wundervoll komponierten Bildern schicken Rodriguez und Bettinga ihre Hauptfigur ins Verderben, stets ihr bedrücktes Gesicht inszenierend. Hin und wieder wird es konterkariert von kleinen, zärtlichen Gesten, wie das schüchterne Hilfsangebot des Bulgaren oder das Köpfe zusammen stecken beim Zigarettenanzünden.

„Chain“ ist ein Blick zurück, auf einen Ausschnitt aus einem Europa, das weit, weit weg wirkt. Doch plötzlich ist das ganz nah, wenn in Facebook-Timelines Hass über syrische Flüchtlinge ausgeschüttet wird, europäische Flüchtlingszahlen aufgerechnet werden und um „sichere Herkunftsländer“ gerungen wird. Ein Film mit brandaktuellem Thema, der an die enorm wichtige Tatsache erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit auch Deutsche zu den Flüchtlingen gehörten.

Original Screenshot aus "Moritz Winnebrock - Ein moderner Waffenproduzent""

Original Screenshot aus „Moritz Winnebrock – Ein moderner Waffenproduzent““

„Moritz Winnebrock – Ein moderner Waffenproduzent“ stammt von Lilo Viehweg und ist eine sehr stilisierte Mockumentary. Die echt schräge Genrewahl erklärt sich, wenn man einen Blick auf das Sujet wirft. Hier wird sehr clever verschleiert, eine Folie geschaffen, auf der sich eine Kritik an aktueller Technologie-Hörigkeit ausbreiten lässt. Der fiktive Jungunternehmer Winnebrock wird hier in Kleidungscode und Sprachduktus als Start-Up-Unternehmer inszeniert. Er stellt sich selbst eloquent aber sehr durchschaubar als jemand dar, dem es doch nur um das Wohl der Welt geht.

In dem gesamten Film fällt nicht einmal das Wort „Waffe“, stattdessen nennt die Hauptfigur das produzierte Gut „Device“, also „Gerät“, ein gängiger Begriff für Tablets oder Smartphones. Jene Waffen bekommen erst spät im Film ein Gesicht, und zwar in hoch stilisierten Zwischensequenzen, die irgendwo zwischen Labor und Werbefoto angesiedelt sind. Diese Tötungsgeräte könnten mit ihren glatten, spiegelnden Oberflächen tatsächlich auch der neuesten Smartphone-Generation entsprungen sein.

Der Film setzt die Nutzenargumentation der Smartphonehersteller analog zu den dauerhaften Euphemisierungsstretegien der Waffenindustrie. Damit deckt Regisseurin Lilo Viehweg sehr schön die Selbstmarketinglügen beider Seiten auf und zeigt als Nebeneffekt sehr eindringlich, wie vorsichtig man mit Selbstdarstellung in dokumentarischen Formaten umgehen muss.

Original Screenshot aus "Momentum"

Original Screenshot aus „Momentum“

Zuletzt kommt mit „Momentum“ von Boris Seewald ein Tanzfilm der besonderen Art. Nein, hier hat niemand die alte „Dirty Dancing“-Kiste neu aufgelegt. Im Gegenteil. Es beginnt dokumentarisch. Tänzer Patrick Hanna erzählt von dem Moment, der in ihm den Funken für das Tanzen entfachte. Seewald aber führt das nicht als reine Doku fort, er baut die Geschichte nicht szenisch oder dramaturgisch auf. Der Film beginnt, parallel zu Hannas Erzählung über dessen erste Moves auf einer Party, auf allen filmischen Ebenen mitzutanzen – visuell, schnitttechnisch, musikalisch.

Das erzeugt viel mehr Sog, als die Abbildung der Geschichte selbst, die vermutlich in der Form auch eher langweilig geworden wäre. So jedoch kann man nicht umhin, mitzuwippen, so bekommt die Aussage, er habe seine Mutter zuvor nie tanzen gesehen etwas unerwartet Anrührendes. So ergibt es Sinn, wenn Patrick Hannah eben nicht formulieren kann, was genau seine Faszination am Tanzen ausmacht, ihm die Worte fehlen und schließlich seine Sätze, seine Erklärungen von seinen Tanzmoves zuende geführt werden. Seewald schafft es mit „Momentum“ die Leidenschaft eines Menschen nicht nur abzubilden, sondern erfahrbar zu machen.

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„Der Goldene Blumentopf“ – die Trophäe des Flimmerzimmers (Foto: Andre Persiehl)

Der Goldene Blumentopf

Die Werke und vor allem ihre Filmemacher wurden für das Ein-Jahres-Event vom Veranstalterteam extra aus den Filmen des vergangenen Jahres gewählt. Sie repräsentieren den Mut und das Kämpfen in einer Branche, in der oft mit den Werken „kein Blumentopf mehr zu gewinnen“ ist. Allen sechs Filmemachern wurde am vergangenen Donnerstag beim Screening der „Goldene Blumentopf“ verliehen. Das soll eine kleine Wertschätzung für Filmemacher mit eigener Handschrift sein, die oft in der auf wirtschaftliche Förderung ausgelegten Branche nicht wahrgenommen werden. Die Veranstalter betonten, auch in Zukunft mit dem Flimmerzimmer für einen Ort zu sorgen, an dem sich junge Filmemacher vernetzen können und an dem interessierte Zuschauer filmische Kleinode zu Gesicht bekommen.

Im Flimmerzimmer ist die Chance hoch, Filme zu sehen, die vielleicht anderswo aus bizarren formalen Gründen oder wegen noch bizarrerer Geschmacksfragen nicht laufen. Die sechs Werke jedenfalls sind ein wunderbar breit gefächertes Beispiel dafür, welche Ideen und ungewöhnlichen Themen oder Herangehensweisen es im Film geben kann. Und es ist toll zu sehen, dass sich für solche Geschichten immer wieder Mitstreiter in allen Gewerken finden, auch wenn es keine Tarifgehälter oder Kaviarschnitten gibt. Immerhin können wir nach 365 Tagen Filmmerzimmer behaupten, dass es einen fest etablierten Ort gibt, an dem auch genau diese besonderen Filme gezeigt werden. Kommende Termine finden sich auf Facebook oder der Homepage. Vielleicht noch ein Geheimtipp. Noch.

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Abschlussbild mit Trophäen (v.l.): Veranstalter André Herrmann und André Kirchner, Filmpate Philipp Müller-Dorn, Miriam Bliese, Kai Stänicke, Rebecca Blöcher, Boris Seewald, Filmpate Thomas Zandegiacomo Del Bel, vorne: Lilo Viehweg und Filmpatin Juliane Fuchs (Foto: André Persiehl)

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